Der Friedhof Potocari liegt unweit von Srebrenica, jener Ort, der heute bekannt ist mit dem „Massaker von Srebrenica“: 1995 wurden hier tausende bosnische Männer und Jungen von Serben ermordet. Hier, auf dem 2003 eingerichteten Friedhof, sollen sie ihre letzte Ruhe finden.
Krähen, überall Krähen. Sie scheinen unermüdlich zu sein. Ihr Krächzen produziert Beklemmung. Anspannung und Trauer liegen in der Luft. Viele weiße, schmale Grabsteine offenbaren sich, so viele, dass das Auge sie nicht auf einmal alle erfassen kann. Die Steine spitzen sich nach oben hin zu, so als sie Pfeile, die in den Himmel ragen. Zwischendurch finden sich grüne Grabsteine. Der Himmel ist grau, es ist frostig kalt, Nebel legt sich dicht um die Gräber.
Der Friedhof Potocari liegt unweit von Srebrenica, jener Ort, der heute bekannt ist mit dem „Massaker von Srebrenica“: 1995 wurden hier tausende bosnische Männer und Jungen von Serben ermordet. Hier, auf dem 2003 eingerichteten Friedhof, sollen sie ihre letzte Ruhe finden.
Einer, der das Massaker überlebt hat, führt heute Touristen über den Friedhof. Er hat anderen beim Sterben zugesehen, sagt er. In nur wenigen Tagen wurden die Leben tausender Männer ausgelöscht, unter ihnen viele Kinder und Alte. Sie verhungerten, verdursteten, starben an Übermüdung oder durch Exekution. Ihre Körper wurden verscharrt, Massengräber umgebettet, die Überreste bis heute gesucht. „8372…“ steht auf einem Gedenkstein. Die Namen der Toten stehen auf einer langen grauen Marmortafel geschrieben.
„Tausende Menschen ermordet“, sagt der Überlebende und schaut eindringlich in die Menge. Der Massenmord war geplant, organisiert und durchgeführt, sagt er. Versammelt an der in Marmor ausgelegten Gebetsstelle erzählt er ausführlich die Geschichte einige dieser Toten. Und er erzählt seine eigene. Wie er geflogen ist, sich in den Wäldern versteckte, wie er hungerte. Seine Wangen glühen dabei, seine Gesten werden intensiver. Seine fragenden Blicke beklemmen die Zuhörer, aber niemand von ihnen kann ihm die Antwort auf seine wichtigste Frage geben: Warum ist das hier geschehen?
Plötzlich, mitten hinein in die Angespanntheit springen zwei Hunde. Ein halbwüchsiger Welpe und ein erwachsener, ausgehungerter Hund spielen wild miteinander, direkt hinter dem Rücken des Mannes. Nur die versammelte Gruppe kann das Schauspiel sehen, der Touristenführer erzählt immer weiter. Unsichere Blicke wandern hin und her, so als würden die Zuhörer hoffen, er möge das jetzt nicht mitbekommen.
Eine ältere Frau betritt den Friedhof. Sie trägt ein weißes Kopftuch und einen langem dunklen Mantel. Mit langsamen Schritten, die Hände auf dem Rücket gefaltet, bahnt sie sich ihren Weg zwischen den Steinen. Der fremden Gruppe schenkt sie keine Beachtung. Sie verschwindet zwischen den Steinen, gedankenverloren. Als sie den Friedhof verlassen will, begegnet sie einer Gruppe von Soldaten, die sich am Eingang mit Fotoapparaten positionieren. Die Männer in den Uniformen fotografieren den Friedhof, sie reden laut. Einer von ihnen scheint sich auszukennen und berichtet den anderen. Die Frau läuft an ihnen vorbei, so als wären sie gar nicht da. Es ist beklemmend und skurril: Die Frau besucht ihre Toten, vielleicht ihren Mann, vielleicht ihre Söhne und Brüder, vielleicht auch alle zusammen. Und die Soldaten machen daraus ein Foto.
Der Touristenführer fragt: „Was denkt ein Mensch, wenn er weiß, dass er gleich sterben muss?“
Das Wort Friedhof enthält das Wort Frieden. Für Potocari trifft das nicht zu. Dieser Friedhof ist überladen mit einer dunklen Vergangenheit, die zu schwer wiegt, um hier Ruhe und Frieden einkehren zu lassen. Es ist der Zorn und die tiefe Trauer des Überlebenden und vieler anderer Angehöriger darüber, dass manche Gräueltaten des Krieges noch immer geleugnet werden. Es sind die noch immer verscharrten Toten, deren Überreste von Angehörigen vergeblich gesucht werden. Und es ist das Schweigen der Täter und die ihnen gewährte Freiheit, die den Ort hier nicht zur Ruhe kommen lässt.
Wer hierhin kommt, kann keinen Frieden finden.